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Titel
Zeiten bezeichnen / Labelling Times. Frühneuzeitliche Epochenbegriffe: europäische Geschichte und globale Gegenwart / The ›Early Modern‹ – European Past and Global Now


Herausgeber
Mahler, Andreas; Zwierlein, Cornel
Reihe
Wolfenbütteler Forschungen
Erschienen
Wiesbaden 2023: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
388 S., 7 SW-Abb.
Preis
€ 74,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hannes Ziegler, Abteilung Frühe Neuzeit, Ludwig-Maximilians-Universität München

Ob es sinnvoll und zielführend ist, dass die im deutschsprachigen Raum übliche geschichtswissenschaftliche Epocheneinteilung „Frühe Neuzeit“ genauso – nämlich: „Frühe Neuzeit“ – heißt und ob es weiterhin sinnvoll und zielführend ist, diese gewöhnlich den ungefähren Zeitraum von 1500 bis 1800 beschreibende Einteilung überhaupt als eine Epoche eigenen Rechts zu führen, sind Fragen, die man sich nicht unbedingt stellen muss. Es genügt in der Regel der akademischen und (wenn auch mit etwas geringeren Chancen) auch der außerakademischen Verständigung, dass es diese Setzung gibt. Denn sie ist hinreichend verbreitet, dass Beteiligte einander rasch und unmissverständlich verdeutlichen können, was sie damit anzeigen. Sich allzu genau zu fragen, was damit nun inhaltlich gemeint ist, birgt demgegenüber die Gefahr, zu dem Schluss zu kommen, dass damit inhaltlich eigentlich gar nichts allzu Genaues gemeint ist.

Aber es gibt Situationen, in denen man diese Fragen trotzdem stellen muss. Wenn die Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel ihre zwei interdisziplinären Arbeitskreise „Renaissanceforschung“ und „Barockforschung“ ganz bewusst unter dem neuen Titel „Frühneuzeitforschung“ vereint und damit zwei alternative Epochen- oder Zeitabschnittsbezeichnungen zugunsten der „Frühen Neuzeit“ abschafft, dann liegt es jedenfalls nicht ganz fern, über diesen Vorgang zu reflektieren. Das dürfte auch deshalb angebracht sein, weil hier das Problem verschiedener disziplinärer Gepflogenheiten der Epochenbezeichnung berührt ist. Denn: Erzielen die Bezeichnungen „Barock“ und „Renaissance“ für viele nicht vielleicht sogar einen höheren Verständigungseffekt als die „Frühe Neuzeit“? Im Jahr 2019 gegründet, hat der neu geschaffene Arbeitskreis darum im Sommer 2021 ein Gründungssymposium dazu genutzt, die Frage der Epochenbezeichnung genauer in den Blick zu nehmen.

Das nun publizierte Ergebnis hat auf den ersten Blick kein überraschendes Format und ähnelt vorausgegangenen Versuchen, die um ähnliche Fragen kreisten: Sind Epochenbezeichnungen überhaupt sinnvoll und notwendig? Ist die Bezeichnung „Frühe Neuzeit“ von besonderem Wert? Was sind ihre Vorteile, was ihr Ballast? Wie halten es andere historisch arbeitende Disziplinen mit ihren Begrifflichkeiten? Und kann man eine solche Bezeichnung in einer entprovinzialisierten, also globalen Betrachtung überhaupt sinnvoll nutzen, ohne den Zeitlogiken der Geschichten anderer Weltregionen Gewalt anzutun? Irritierend ist, dass der vorliegende Band – gerade in der Einleitung, aber auch sonst – weitgehend so tut, als habe es diese früheren Diskussionen nicht gegeben und als lägen ihre Ergebnisse nicht publiziert vor.1 An sich spannende Beobachtungen zu den personen- und generationengeschichtlichen Begleiterscheinungen der Entstehung des Faches „Frühe Neuzeit“ in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verbleiben in der Einleitung wie auch in der Folge zudem nur im Bereich der Andeutung. Dabei belegen vereinzelte Bemerkungen zur weiteren Ausdifferenzierung der „Neueren und Neuesten Geschichte“ nach 1945, aber auch zur Bedeutung der Frauen- und Geschlechtergeschichte den bekannten Befund, dass die Entstehung der „Frühen Neuzeit“ keinesfalls nur inner-disziplinären Entwicklungen geschuldet war. Stattdessen folgte sie Entwicklungen, die weit jenseits geschichtstheoretischer Erwägungen lagen; zu nennen wären hier beispielsweise auch pragmatische Anforderungen im Zuge des Ausbaus der Universitäten in der Bundesrepublik Deutschland. Den Sinn der „Frühen Neuzeit“ demgegenüber nur inner-disziplinär finden zu wollen, ist also ein mindestens unwahrscheinliches Vorhaben, weil es wesentliche Faktoren schlicht ausblendet.2

Die Stärke des Bandes liegt stattdessen in der gelungenen Absicht, die titelgebende Figur des „Zeiten Bezeichnens“ ernst zu nehmen und interdisziplinär zu reflektieren. Daniel Woolf veranschaulicht in einer den Sektionen vorangestellten geschichtsphilosophischen Zusammenschau, dass bei aller berechtigten Kritik an der Epoche doch zugleich ihre argumentationspraktische Notwendigkeit bestehen bleibt. In eine ähnliche Richtung zielen die Beiträge des nachfolgenden ersten Abschnitts über „Sinn und Unsinn von Epochenbezeichnungen“. So gibt es für Thomas Martin Buck in einem anschaulichen Essay eine „heuristische Notwendigkeit“ (S. 77) der Epochenbezeichnung. Andreas Mahler möchte theoretische Parameter für einen solchen Schritt an die Hand geben, während er zugleich auch auf die partielle Beliebigkeit gegenwärtiger Epochenbezeichnungen hinweist. Dazu passt Achim Landwehrs Diagnose eines schizophrenen Verhältnisses der Geschichtswissenschaft zur Epochenbezeichnung, das er „Epochalismus“ (S. 91) nennt. Da dieser Epochalismus auch ein „Machtmittel zur […] Gestaltung von Gegenwart“ (S. 99) sei, schlägt er vor, mit den Begriffen von „Chronoferenz“ und „Zeitschaft“ eine komplexere Herangehensweise an Zeit und Epoche zu wählen. Die Erkenntnis einer Notwendigkeit des Bezeichnens steht in diesem Abschnitt folglich neben dem unterschiedlich perspektivierten Plädoyer für eine sorgfältigere Reflexion dieses Bezeichnens.

Dem Spektrum der Möglichkeiten und Deutungsangebote folgen auch die nachfolgenden Beiträge, die sich in drei weiteren Sektionen um die Begriffsgeschichten von Epochenbezeichnungen, um spezifische fachgeschichtliche Deutungen und um die globale Dimension drehen. Annette Simonis untersucht in anschaulicher Weise die Funktion des metaphorischen Bezeichnens von Zeiten am Beispiel der Renaissance. Philip Haas unterzieht hingegen für das Forschungsfeld der Stadtgeschichte den auf den ersten Blick harmlosen Begriff des „Nachmittelalters“ (S. 159) einer klugen Kritik und zeigt, wie sehr das Feld durch diese spezifische Epochenfiguration bis heute geprägt ist.

Andere Beiträge – wie jene von Anne Enderwitz oder Susan Richter – befassen sich auf einer anderen methodischen Ebene mit dem Thema, indem sie auf die vergangene Wahrnehmung von Gegenwart und gegenwärtigem Wandel als Indizien eines Epochenbruchs eingehen. Insbesondere die englische Frühneuzeit findet darüber hinaus breite Berücksichtigung, etwa in Felix Sprangs und Florian Klaegers Untersuchungen von Schriften im Umfeld der Royal Society. Anzurechnen ist dem Band schließlich, dass er – in zwei Beiträgen von Martin Gabriel und Cornel Zwierlein – auch die globale Dimension diskutiert. Gabriel plädiert etwa für eine „lokale oder regionale“ (S. 321) Frühneuzeit. Leider werden die vielfältigen und letztlich auch dissonanten Stimmen des Bandes nicht noch einmal zusammenfassend am Ende gebündelt – sei es mit Blick auf die disziplinär unterschiedliche Prägung und Funktion von Epochenbezeichnungen oder im Hinblick auf die im Band mehrfach kritisierten, aber deshalb nicht weniger lebendigen gegenwärtigen Epochenbezeichnungen.

Das hier vorgelegte Format der Standortbestimmung ähnelt vorherigen Versuchen. Es mögen bisweilen sogar die gleichen Fragen sein, die dort wie hier gestellt werden. Aber in einer dynamischen Diskussion hat es durchaus seinen Platz, dann und wann nach dem „Wo ist hier? / Wann ist jetzt?“ zu fragen. Das gilt erst recht, wenn diese Fragen, wie im vorliegenden Fall, die Gestalt eines gelungenen Bandes mit überwiegend ausgesprochen lesenswerten Beiträgen annehmen. Wenn sich am Ende der Eindruck einer gewissen Verlegenheit in Bezug auf das Etikett „Frühe Neuzeit“ trotz und wegen der zahlreichen spannenden Reflexionen dann doch erhärtet, ist das vielleicht auch als zutreffende Standortbestimmung zu verstehen. In der hier klug vorgeführten geschichtstheoretischen Erkenntnis, dass man Zeiten nun einmal irgendwie bezeichnen muss, und in der pragmatischen Anerkennung, dass die übliche Bezeichnung nun einmal eingeführt ist, kann es für den Moment wohl getrost bei der „Frühen Neuzeit“ bleiben – laut Andreas Mahler allerdings eher „faute de mieux“ (S. 75) als wirklich emphatisch.

Anmerkungen:
1 Vgl. unter anderem Hans Erich Bödeker / Ernst Hinrichs (Hrsg.), Alteuropa – Ancien Regime – Frühe Neuzeit. Probleme und Methoden der Forschung, Stuttgart 1991; Rudolf Vierhaus (Hrsg.), Frühe Neuzeit – Frühe Moderne? Forschungen zur Vielschichtigkeit von Übergangsprozessen, Göttingen 1992; Nada Boškovska Leimgruber (Hrsg.), Die Frühe Neuzeit in der Geschichtswissenschaft. Forschungstendenzen und Forschungserträge, Paderborn 1997; Renate Dürr / Gisela Engele / Johannes Süßmann (Hrsg.), Eigene und fremde Frühe Neuzeiten. Genese und Geltung eines Epochenbegriffes, München 2003; Helmut Neuhaus (Hrsg.), Die Frühe Neuzeit als Epoche, München 2009; Christian Jaser / Ute Lotz-Heumann / Matthias Pohlig (Hrsg.), Alteuropa – Vormoderne – Neue Zeit. Epochen und Dynamiken der europäischen Geschichte (1200–1800), Berlin 2012; Andreas Höfele / Jan-Dirk Müller / Wulf Oesterreicher (Hrsg.), Die Frühe Neuzeit. Revisionen einer Epoche, Berlin 2013.
2 In diesem Sinne kürzlich Wolfgang Reinhard, Rezension zu: Andreas Mahler / Cornel Zwierlein (Hrsg.), Zeiten bezeichnen / Labelling Times. Frühneuzeitliche Epochenbegriffe: europäische Geschichte und globale Gegenwart / The 'Early Modern' – European Past and Global Now, Wolfenbüttel 2023, in: sehepunkte 23 (2023), 12, 15.12.2023, https://www.sehepunkte.de/2023/12/38666.html (27.02.2024). Siehe außerdem Justus Nipperdey, Die Institutionalisierung des Faches Geschichte der Frühen Neuzeit, in: Arndt Brendecke (Hrsg.), Praktiken der Frühen Neuzeit. Akteure – Handlungen – Artefakte, Köln 2015, S. 696–714.

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